ZUR KONZEPTION
Interview mit der Choreographin Irene Schneider

In den vergangenen Spielzeiten haben Sie immer wieder Ballette choreographiert und inszeniert, zu denen es literarische Vorlagen gab - wie z. B. der Ballettabend »Ein Sommernachtstraum«, der auf der gleichnamigen Komödie William Shakespeares basiert. Nun entschieden Sie sich, Prosper Merimees
Novelle »Carmen« - einen tragischen Stoff - zu vertanzen. Worin liegt für Sie der besondere Reiz der literarischen Stoffe und warum entschieden Sie sich diesmal für die Novelle »Carmen«?

Ich wollte schon lange ein »Carmen«-Ballett choreographieren, aber nicht nach der Oper, sondern nach der Novelle Merimees, der in »Carmen« das Schicksal einer Frau erzählt, die nur ihre Freiheit liebt und bereit ist, für diese auch in den Tod zu gehen.

Die Novelle »Carmen« wurde nicht nur von Georges Bizet in seiner gleichnamigen Oper vertont, sondern regte auch Komponisten wie den Russen Rodion Schtschedrin und den Deutschen Wolfgang Fortner zur Komposition entsprechender Ballettmusiken an. Sowohl die „Carmen-Suite" von Schtschedrin als auch Fortners »Carmen. Bizet-Collagen« verwenden ausschnittweise die Musik Bizets. Warum entschieden Sie sich für die »Bizet-Collagen« Fortners und gegen die wesentlich bekanntere Musik der „Carmen-Suite" Schtschedrins, die eines der erfolgreichsten einaktigen Ballette ist, die seit den zwanziger Jahren herausgekommen sind?

Wenn man Schtschedrins Ballettmusik zu »Carmen« vertanzt, bedeutet das schlicht und einfach, die Oper nicht mit Sängern, sondern mit Tänzern darzustellen. Da ich mich nicht auf die Rollenklischees der Oper festlegen lassen wollte, erschien mir diese Möglichkeit als zu einfach. Deshalb entschied ich mich für die von Wolfgang Fortner komponierte Musik.

Auch Wolfgang Fortner folgt mit der von ihm aufgegriffenen Bizet'schen Originalmusik im Handlungsablauf des Balletts sehr stark der Opern-Vorlage und weicht damit in einigen Punkten von der Novelle ab. Zwischen der Oper und der Novelle gibt es eine starke Diskrepanz in Bezug auf die Charaktere. Ihnen lag aber vor allem daran, die Handlung der Novelle und nicht die der Oper nachzuerzählen. Gab es bei der Umsetzung Probleme oder Widersprüche, da es nicht für alles eine Entsprechung bei Bizet und Fortner gibt?

Wolfgang Fortner hat von Georges Bizets das musikalische Material nur zitathaft verwendet - die Zuhörer, die die Oper kennen, werden die kurz aufblitzenden, oft nur wenige Takte dauernden Motive erkennen. So hört man zwar immer wieder Rhythmen oder Melodien, die man sofort mit der Oper assoziiert, doch es gibt keine längeren musikalischen Zitate. Die Komposition ist sehr
modern, was einem als Choreographen einen viel größeren Handlungsspielraum lässt, der mir ja besonders wichtig war.

Da die Oper in ihrer Dramaturgie bestimmten Gesetzen folgen muss, war es Bizet und seinen Librettisten nicht möglich, die Figur der Carmen als das darzustellen, was sie bei Merimee ist - eine männerverschlingende Frau, der ihre Freiheit über alles geht, eine »femme fatale«, eine wilde Zigeunerin und deren Erotik. Bietet das Ballett bzw. das Tanztheater eher die Chance, alle Facetten dieser Frau - und auch die Don Joses - aufzuzeigen?

Ja, in der Tat. Die Oper verfälscht das Bild der Merimee'schen Carmen total: Die »literarische« Carmen liebt ihre Freiheit über alles, sie lässt sich von keinem Mann domestizieren, sie hat einen scharfen Verstand und unfehlbaren Instinkt. Durch ihr Außenseiterdasein als Zigeunerin ist ihr Leben von einer fatalistischen und risikobereiten Einstellung geprägt. Sie spielt mit den Männern und benutzt sie nur für ihre Zwecke. Das kommt in der Oper einfach zu kurz, da dort u. a. nur zwei
Liebhaber (lose und der Torero) auftreten, lose ist im Gegensatz zur Oper ein stolzer Mann, der glaubt, Carmen für sich gewinnen zu können, wenn er alle ihre Liebhaber aus dem Wegräumt. Mit lose tritt ein Wann in Carmens Leben, der durch seine Liebe zu ihr und seine damit verbundenen Besitzansprüche ihr bisheriges Lebenskonzept durcheinanderbringt: Die Freiheit ihres Denkens und
Handelns. Die Unvereinbarkeit ihrer beider Lebensentwürfe stürzt Carmen und lose schließlich in den Tod.

Für viele ist der Klang der Bizet'schen Musik der Inbegriff des Spanischen schlechthin. Finden Sie diesen „Hispanismo" in Fortners Partitur und wenn ja, wie drückt er sich in Ihrer Choreographie aus? Erwartet den Zuschauer etwa ein Flamenco-Abend mit folkloristischem Touch?

Nein, natürlich nicht! Bizet war Franzose und hat nicht wirklich spanische Musik komponiert - wir empfinden sie heute nur als solche. Bei Wolfgang Fortner ist der spanische Rhythmus lediglich noch andeutungsweise zu hören. In meiner Choreographie benutze ich den spanischen Tanz auch nur als Lokalkolorit - gemäß der Novelle: Dort sind es auch nur die Zigeunerinnen und Carmen, die gegen Bezahlung ihre Tänze aufführen. Und genauso zeigt es auch meine Interpretation des Stoffes.

(Zitat aus dem Programmheft zum Stück)

Text übersicht

zurück zum Carmen Start

zurück
back
Inhaltsverzeichnis
content
weiter
forward