Herbert Henning schrieb in der Volksstimme vom 08.03.2004

Sehnsucht nach Freiheit bis in den Tod


Der Ballettabend Carmen. Bizet-Collagen" von Irene Schneider hatte seine erfolgreiche Premiere im Opernhaus Magdeburg. Ballettdirektorin Irene Schneider knüpfte damit an ihre Erfolge der vergangenen Jahre mit großen Balletten nach berühmten literarischen Vorlagen an. Die vom Publikum mit viel Beifall bedachte Inszenierung überzeugt vor allem durch ihre Dramatik und Expressivität.
Von Dr. Herbert Henning

Magdeburg. Bei der Uraufführung der Oper Carmen" von Georges Bizet am 8. März 1875 entrüstete sich ein Kritiker: Wie wahrhaftig, aber wie unmoralisch!" Die Oper ist seither eine der meistgespielten auf allen Opernbühnen der Welt und reizte auch immer wieder Komponisten zu Ballettmusiken. Berühmt wurde Rodion Stschedrins Carmen-Suite", die in der weltberühmten Choreografie von Alberto Alonso auf allen Opernbühnen der Welt getanzt wird. Kultstatuts erlangte 1983 der Carmen" Film von Carlos Sauro. Der deutsche Komponist Wolfgang Fortner komponierte 1971 für das Stuttgart Ballett John Crankos eine Musik, die in ihrer expressiven Art als eine Form der seriellen Musik mit besonderer Affinität zur Zwölfton-Reihentechnik Arnold Schönbergs voller Dramatik und klanglicher Avantgarde ist. Der Komponist verwendete Melodie-Fragmente, Harmonie-Folgen und Rhythmen aus Bizets Carmen", verfremdete, variierte sie und erreichte vor allem durch den Einsatz der Schlagwerke klangliche Effekte, die für die tänzerische Umsetzung eine große Herausforderung sind.

Dass sich Chefchoreografin Irene Schneider für die Ballettmusik Wolfgang Fortners entscheiden würde, war zu erwarten. Irene Schneider hat ausgehend von der Musik und ihren Möglichkeiten für eine größere choreografische Vielfalt fernab jeglicher Nähe zur Bizet-Musik die Carmen-Geschichte auf der Grundlage der berühmten Novelle von Prosper Mérimée neu erzählt. Sie hat gemeinsam mit Jan Michael Horstmann die Musik auch neu strukturiert, an manchen Stellen durch Streichung auch komprimiert.

Das Ergebnis ist ein Ballettabend, der auf beklemmende Weise die unbändige Sehnsucht nach Freiheit und Liebe, Leidenschaft und Stolz bis in den Tod thematisiert. Die tödlich endende Liebe zwischen Carmen, der ihre Freiheit über alles geht, die triebhaft und skrupellos Männer benutzt wie Männer sie als Objekt ihrer Begierde" benutzen", und dem stolzen Basken Jose wird in einer beeindruckenden symbolhaften Bildersprache erzählt. Das weite Halbrund einer Kampfarena vor dem in flammenden Goya-Farben Rot-Schwarz-Grau Liebe, Tod und Hoffnung assoziierendem Horizont ist Schau- und Kampfplatz dieser Tragödie der Leidenschaften (Ausstattung: Eberhard Matthies). Die Kostüme, in denen diese Farben symbolhaft wiederkehren, versagen sich fast allem Folkloristischen, sind zeitlos, stilsicher und entsprechen ganz der Stringenz der tänzerischen Umsetzung (Kostüme: Stefan Stanisic). 

Giséle Santoro als Carmen und Konstantin Osin als José dominieren mit atemberaubender darstellerischer Präsenz und ihrem außergewöhnlichen tänzerischen Können vom ersten Augenblick an die Szene. Ihnen gelingt in überzeugender Weise mit den Mitteln des Tanzes die genaue Charakterisierung der beiden widersprüchlichen Figuren.

Konstantin Osin bringt Joses hitzigen, leidenschaftlichen aber auch seinen brutalen, besitzergreifenden Charakter, wenn er die Liebhaber Carmens nacheinander mordet,
durch vielgestaltige tänzerisch-pantomimische Bewegungsrituale glänzend zum Ausdruck. In den leidenschaftlich getanzten Pas de deuxs zwischen Carmen und Jose, wie auch in den von der Flüchtigkeit des Augenblicks bestimmten tänzerischen Begegnungen Carmens mit dem Capitano (mit athletischer Eleganz und Laszivität Andrej Shatalin), dem Engländer (Dmitrij Poljakov) und dem Torero Lukas (kraftvoll und charismatisch von Dmitrij Chliachtenkov ge tanzt) liegen die Stärken der Choreografie Irene Schneiders. In bekannter und bewährter Form sind Elemente des Neoklassizismus und des modernen Ausdrucktanzes bei fast völligem Verzicht auf Hispanismo und spanische Folklore die Basis ihrer Choreografie, die diesmal noch stärker tänzerisch erzählend als eine Art choreografisches Theater" überzeugt. Solistisch beeindrucken in Szenen bei den Schmugglern und Zigeunerinnen Michael Blaszyk als aggressiver Einäugiger", Alfredo Mena und Paul Zeplichal als Schmuggler sowie Inga Jasawin, Natalja Krylova und Tomomi Sakaguchi als Zigeunerinnen.

Die Magdeburgische Philharmonie unter Jan Michael Horstmann, vor allem aber die sechs Philharmoniker an den auf der Bühne postierten Schlagwerken, leisteten im musikalischen Ausloten der schwierigen Partitur Bravouröses. Die Ballettfans sparten nicht mit Bravos am Schluss. Dass allerdings nach der Pause die Reihen sich etwas gelichtet hatten, war nicht zu übersehen. Zu musikalisch ungewohnt, vielleicht auch zu klangmassiv an manchen Stellen war dieser neue Ballettabend - ein großes Erlebnis aber ist er allemal!

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