Carmen

Die Novelle von Prosper Mèrimè (Auszüge) 

DON JOSÉ SIEHT CARMEN ZUM ERSTEN MAL
Ich bin zu Elizondo im Batzantal geboren (und) heiße Don José Lizarrabengoa. (...) Don nenne ich mich, weil ich das Recht dazu habe (...). Ich sollte Geistlicher werden und musste studieren, aber ich lernte wenig. Ich liebte das Ballspiel zu sehr, und das wurde mein Verderben. (...) Eines Tages, als ich gewonnen hatte, fing ein Bursche aus Alava mit mir Streit an. Wir ergriffen unsere maquilas (eisenbeschlagene Stücke der Basken, Anm. d. Red.), und ich gewann wieder, war aber genötigt, das Land zu verlassen. Ich traf auf Dragoner (im 17._ Jahrhundert mit Musketen bewaffnete, berittene Infanterie; seit Mitte des 18._ Jahrhunderts Teil der Kavallerie, Anm. d. Red.) und ließ mich für das Reiterregiment Almanza anwerben. Die Leute aus unseren Bergen lernen das Kriegshandwerk schnell. In kurzer Zeit wurde ich Brigadier und man versprach mir, mich zum Wachtmeister zu machen, als ich zu meinem Unglück bei der Tabakmanufaktur in Sevilla auf Wache kam. (...). Plötzlich sagten Kameraden: Jetzt läutet es; die Mädchen gehen wieder an die Arbeit. (...) Da kommt die Gitanella! Ich sah auf und erblickte sie. Es war ein Freitag und nie werde ich ihn vergessen. Ich sah jene Carmen (...).

CARMENS AUSSEHEN
Sie trug einen sehr kurzen roten Rock, der weiße, durchlöcherte Seidenstrümpfe und niedliche rote Saffianschuhe sehen ließ, die mit feuerfarbenen Bändern gebunden waren. Die Mantilla hatte sie zurückgeschoben, um ihre Schultern und einen großen Strauß Akazien zu zeigen, der aus dem Hemd hervorsah. Sie hatte noch eine Akazienblüte im Mundwinkel und kam näher, indem sie sich wie eine Stute der Marställe von Cordoba in den Häften wiegte. In meiner Heimat hätte man sich vor einer Frau in diesem Aufzug bekreuzigt; in Sevilla rief ihr jeder ein anzügliches Kompliment über ihr Aussehen zu; sie antwortete allen mit lockendem Blick, die Faust in der Hüfte, frech wie eine echte Zigeunerin, die sie war. Zunächst missfiel sie mir und ich griff wieder nach meiner Arbeit; sie jedoch, nach Art der Frauen und Katzen, die nicht kommen, wenn man sie ruft, und kommen, wenn man sie nicht ruft, blieb vor mir stehen und sprach mich an: Gevatter, sagte sie nach andalusischem Brauch, willst du mir nicht deine Kette zum Anhängen meiner Geldschrankschlüssel geben? - Ich will meine Nadel (zum Säubern der Pistole, Anm. d. Red.) daran befestigen, versetzte ich. - Deine Nadel!, rief sie lachend. Ah, der Herr macht Spitzen, weil er Nadeln braucht! - Alles lachte, wärend ich errötete und ihr nichts zu antworten wusste. Geh, Herz, fuhr sie fort, mach mir doch sieben Ellen schwarze Spitze für meine Mantilla, Kläppler der Seele!, und sie nahm die Akazienblüte, die sie im Mund hatte, und schnellte sie mir mit einer Daumenbewegung genau zwischen die Augen, (...) Da war mir, als hätte mich eine Kugel getroffen. (...).


DER STREIT IN DER TABAKMANUFAKTUR
Zwei oder drei Stunden danach dachte ich noch an das Mädchen, als ein Pförtner atemlos, mit verstörtem Gesicht, in die Wachstube stürzte. Er sagte, dass im großen Zigarrensaal eine Frau ermordet sei und dass die Wache kommen müsse. Der Wachtmeister befahl mir, zwei Mann zu nehmen und nachzusehen. (...). Ich hatte große Mühe, zu erfahren, was geschehen war, da alle Arbeiterinnen zugleich sprachen. Die Verwundete hatte anscheinend geprahlt, genug Geld in der Tasche zu haben, um auf dem Markt zu Triana einen Esel kaufen zu können. - Aha, sagte Carmen mit ihrer bösen Zunge, du hast also an einem Besen nicht genug? - Die andere, beleidigt durch den Vorwurf und weil sie sich vielleicht in dieser Hinsicht nicht ganz sauber fühlte, erwiderte, dass sie das mit dem Besen nicht ganz verstünde, da sie weder die Ehre habe, Zigeunerin noch Satans Patenkind zu sein; C...) Und ich, rief Carmen, will dir Fliegentränken auf die Backen machen und ein Schachbrett draufmalen, und dabei, ritsch, ratsch, zieht sie ihr mit dem Messer, mit dem sie Zigarrenenden abschnitt, Andreaskreuze über das Gesicht.


DIE VERHAFTUNG UND CARMENS FLUCHT
Der Fall war klar, ich nahm Carmen am Arm und sagte höflich zu ihr: Schwester, du musst mir folgen. -(...) Ach, was wird aus mir! Gn?diger Herr Offizier, haben Sie Erbarmen mit mir! Sie sind so jung, so hübsch!... Und etwas leiser sagte sie: Lassen Sie mich entwischen! (...) Wenn ich Sie stoße und Sie fallen, Landsmann, begann sie wieder, sollen mich diese zwei Rekruten von Kastiliern gewiss nicht halten. Meiner Treu, ich vergaß den Befehl und alles und sagte zu ihr: Cut, Freundin, Landsm?nnin, versuch es, und Unsere Frau vom Berge steh' dir bei. - In diesem Augenblick passierten wir eine jener engen Gassen (...). Plötzlich drehte sich Carmen um und versetzte mir einen Fausthieb vor die Brust. Ich ließ mich absichtlich rückwärts fallen. (...) Schneller als ich es Ihnen erz?hle, war die Gefangene verschwunden. (...)


DAS WIEDERSEHEN MIT CARMEN
Die ersten Tage meiner Haft verliefen sehr traurig. Und weshalb habe ich mich bestrafen lassen? Wegen einer Zigeunerin, die mich zum Narren gehalten hat und in diesem Augenblick in irgendeinem Winkel der Stadt stiehlt. Trotzdem konnte ich es nicht lassen, an sie zu denken. (...) Nach der öffentlichen Degradierung glaubte ich nichts mehr erdulden zu müssen; doch hatte ich noch eine Demütigung zu schlucken. Als ich aus dem Gefängnis kam, wurde ich zum Dienst befohlen und wie ein gemeiner Soldat auf Posten gestellt. (...) Da fuhr der Wagen des Oberst (...) vor. Wen sehe ich aussteigen?- Die Gitanella. (...) Carmen erkannte mich und wir tauschten Blicke. (...) Carmen sah mich im Vorbeigehen (...) an und sagte ganz leise: Landsmann, wenn man gerne gutgebackenen Fisch isst, geht man nach Triana, zu Lillas Pastia. Sie erraten wohl, dass ich bei der Wachablösung nach Triana ging; zuvor aber ließ ich mich rasieren und bürstete mich ab wie zur Parade. Sie war bei Lillas Pastia, dem alten Fischbäcker, einem Zigeuner (...). Lillas, sagte sie, sobald sie mich sah, Deute tu ich nichts mehr. Komm, Landsmann, wir gehen spazieren. (...)


DIE NACHT MIT CARMEN UND DER ABSCHIED
Du bist mein rom (Mann, Anm. d. Red.), ich bin deine romi (Frau, Anm. d. Red.).' Ich stand mitten im Zimmer, mit ihrem ganzen Einkauf, nicht wissend wohin mit den Sachen; sie warf alles auf den Boden, fiel mir um den Hals und rief: Ich zahle meine Schuld, ich zahle meine Schuld, so ist das Gesetz der cales (Zigeuner, Anm. d. Red.). (...) Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen mit Essen, Trinken und dem Rest. (...) Ich sagte, ich möchte sie tanzen sehen; aber wo Kastagnetten finden? Sofort nimmt sie den einzigen Teller (...), schl?gt ihn in Stücke und schon tanzt sie den romalis, indem sie mit den Steingutstücken ebenso gut klappert, als wären es Kastagnetten von Ebenholz oder Elfenbein. Man langweilte sich bei diesem Mädchen nicht, dafür stehe ich ein. Es wurde Abend, und als ich den Zapfenstreich trommeln hörte, sagte ich zu ihr: Ich muss ins Quartier zum Appell. - Ins Quartier?, sagte sie verächtlich, Bist du denn ein Neger, den der Stock regiert? Du bist ein echter Kanarienvogel (spanische Dragoner sind gelb uniformiert, Anm. d. Red.), in Kleidung und Charakter. Geh, du bist ein Hasenfuß! Ich blieb, im Voraus auf Arrest gefasst. Am Morgen war sie es, die zuerst von Trennung sprach. Höre, Joséito, habe ich dich bezahlt? Nach unserem Gesetz war ich dir nichts schuldig, weil du ein payilo (Bezeichnung der Zigeuner f?r jeden ihres Volkes Fremden, Anm. d. Red.) bist; aber du bist ein hübscher Junge und hast mir gefallen. Nunsindwir quitt; guten Tag. Ich fragte, wann ich sie wiedersehen w?rde. Wenn du weniger grün bist, erwiderte sie lachend; dann, in ernsterem Ton: Weißt du, mein Sohn, dass ich glaube, dich ein bisschen lieb zu haben? Aber das kann nicht dauern, Hund und Wolf passen nicht lang gut zusammen. Vielleicht, wenn du Zigeuner würdest, wäre ich gern deine romi; doch das sind Dummheiten, es ist nicht möglich. Bah, mein Junge, glaube mir, du bist gut davongekommen! Du bist dem Teufel begegnet, ja dem Teufel! - er ist nicht immer schwarz - und er hat dir den Hals nicht umgedreht. Me dicas vriardâ de jorpoy, bus ne sino braco. (Ich bin in Wolle gekleidet, aber ich bin kein Lamm, Anm. d. Red.) Zünde vor deiner majardi (Heilige Jungfrau, Anm. d. Red.) eine Kerze an: sie hat sie redlich verdient. Also nochmals, adieu. Denk nicht mehr an Carmencita. (...)


DON JOSÉ ERMORDET DEN OFFIZIER
Ich sah auf, und Carmen stand vor mir. Nun, Landsmann, seid ihr mir noch böse?, fragte sie. Ich muss euch wohl wider Willen gern haben, denn seit ihr mich verlassen habt, weiß ich nicht, was mir fehlt. Sieh, jetzt bin ich es, die fragt, ob du in die Candilejostraße kommen willst. Wir schlossen also Frieden, aber die Launen Carmens waren wie bei uns das Wetter. (...) Eines Abends (...), als Carmen eintrat, (wurde sie) begleitet von einem jungen Mann, Leutnant in unserem Regiment. Was tust du hier?, fragte mich der Leutnant; Hau ab, Marsch hinaus! Ich war wie gelähmt, konnte keinen Schritt tun. Da ich nicht ging und nicht einmal meine Kappe abnahm, geriet der Offizier in Wut, packte mich am Kragen und schüttelte mich tüchtig. Was ich ihm sagte, weiß ich nicht. Erzog den Degen und ich den Säbel. (...) Als der Leutnant mich verfolgte, setzte ich ihm die Klinge auf den Leib und er rannte hinein. Darauf löschte Carmen die Lampe (...).


DON JOSÉ WIRD IN DIE SCHMUGGLERBANDE AUFGENOMMEN
Mein Junge, sagte Carmen, du musst etwas tun, nun dir der König weder Reis noch Stockfisch mehr gibt, musst du daran denken, dein Brot zu verdienen. Du bist zu dumm, à pastesas (ohne Gewaltanwendung, Anm. d. Red.) zu stehlen; aber du bist gelenkig und stark. Wenn du Mut hast, geh an die Küste und werde Schmuggler! - Habe ich dir nicht versprochen, dass ich dich an den Galgen bringe? Das ist besser, als erschossen zu werden. übrigens wirst du, wenn du's schlau anfängst, wie ein Prinz leben, solange dir die Miñons (eine Art Freikorps, Anm. d. Red.) und die Küstenwächter nicht auf die Schliche kommen. So verlockend schilderte mir dieses Teufelsweib die neue Laufbahn, die sie mir ausersah, tatsächlich die einzige, die mir blieb, nachdem ich der Todesstrafe verfallen war. (...) Sie überredete mich ohne viel Mühe. Ich glaubte mich durch dies Leben voll Zufall und Gefahren inniger mit ihr verbunden und hoffte, mich ab jetzt ihrer Liebe versichern zu k?nnen. (...) Wenn ich dich je in den Bergen habe, werde ich deiner sicher sein, sagte ich zu ihr. Dort gibt es keinen Leutnant, der mit mir teilt. - Ah, du bist eifersüchtig!, erwiderte sie. Desto schlimmer für dich. Wie kannst du so dumm sein? Siehst du nicht, dass ich dich liebe, da. ich niemals Geld von dir verlangt habe? (...)


DER EINäUGIGE
Eines Tages oder vielmehr Nachts, kamen wir unterhalb Veger zusammen. Der Dancaïro und ich waren vor den anderen da; er schien sehr aufger?umt und sagte zu mir: Wir bekommen einen neuen Kameraden. Carmen hat einen ihrer besten Streiche gespielt. Sie hat ihren rom befreit, der in Tarifa gefangensa?. - Ich verstand die Zigeunersprache (...) schon ein wenig, so dass das Wort rom mich erbeben lie?. - Wie? Ihren Mann?, fragte ich. Sie ist also verheiratet, Hauptmann?-Ja, antwortete er, mit Carcia, dem Ein?ugigen, einem Zigeuner (...). Bald sah ich Garcia, den Einäugigen; es war wohl das h?sslichste Scheusal, das die Zigeuner je hervorgebracht haben: schwarz die Haut und noch schwärzer die Seele. (...) Carmen kam mit ihm, und wenn sie ihn vor mir ihren rom nannte, musste man die Blicke sehen, die sie mir zuwarf. (...)


DER ENGLäNDER
Von Carmen hörten wir nichts mehr. Der Dancaïro sagte: Einer von uns muss nach Gibraltar, um Nachricht von ihr zu holen. (...) Wir kamen überein, alle drei nach Sierra Gaucin aufzubrechen, wo ich meine beiden Gef?hrten zurücklassen und mich, als Früchtehändler verkleidet, nach Gibraltar begeben sollte. C...,)Als zwei Tage mit vergeblichen Gängen verstrichen waren, hatte ich nichts über (...) Carmen erfahren und gedachte nach einigen Einkäufen zu meinen Kameraden zurückzukehren, als ich, bei Sonnenuntergang durch eine Straße gehend, aus einem Fenster eine Frau rufen h?rte: Orangenhändler! Ich hebe den Kopf und sehe Carmen über einen Balkon gelehnt neben einem Offizier in roter Uniform mit goldenen Epauletten, gekräuseltem Haar und dem Gebaren eines großen Lords. (...) Der Engländer rief mir in gebrochenem Spanisch zu, heraufzusteigen, Madame wünsche Orangen (...). wärend wir (oben) sprachen, trat ein Diener ein und meldete, dass serviert sei. Darauf erhob sich der Engländer, reichte mir einen Piaster und gab Carmen den Arm, als ob sie nicht allein gehen könnte. Carmen sagte (...) zu mir: Mein Junge, zum Essen kann ich dich nicht einladen; aber morgen, sobald du die Trommel zur Parade rufen h?rst, komm mit deinen Orangen hierher. (...) Am Morgen nahm (ich) den Orangenkorb und lief zu Carmen. (...) Und sie tanzte und zeriss ihren Putz! ('....) Als sie wieder ernst geworden war, sagte sie zu mir: Höre, es geht um Ägypten. (Der Engländer) soll mich nach Ronda führen, (...) wir passieren eine Stelle, die ich dir noch sage; ihr überfallt ihn und plündert ihn sauber aus. Das beste wäre, ihn totzuschlagen. (...)


DON JOSÉ ERMORDET DEN EINÄUGIGEN UND DEN ENGLÄNDER
Ich blieb noch zwei Tage in Gibraltar. Sie hatte die Kühnheit, mich verkleidet in meiner Herberge aufzusuchen; dann reiste ich ab. Auch ich hatte meinen Plan. Ich kehrte zu unserm Sammelplatz zurück, nachdem ich Ort und Stunde wusste, wann der Engländer und Carmen vorüberkommen sollte. Der Dancaïro und Garcia erwarteten mich. Wir verbrachten die Nacht im Wald an einem Feuer aus Tannenzapfen, das prächtig aufloderte. Ich schlug Carcia vor, Karten zu spielen. Er nahm an. Bei der zweiten Partie warf ich ihm vor, dass er falsch spiele; er lachte. Ich warf ihm die Karten ins Gesicht. Er griff nach seiner Pistole; ich stellte den Fu? darauf und sagte ihm: Es hei?t, dass du mit dem Messer umzugehen weißt wie der beste Kampfhahn von Malaga; willst du es mit mir versuchen? Der Dancaïro wollte uns trennen. Ich hatte Garcia zwei oder drei Faustschl?ge versetzt. Die Wut machte ihn mutig: Er zog sein Messer, ich das meine. Wir sagten beide dem Dancaïro, uns freien Platz und offenes Spiel zu lassen. (...) Ich fühlte mich stärker als ein Riese. Wie ein Pfeil stürzte (der Einäugige) sich auf mich; ich drehte mich auf den linken Fu? und er fand nichts mehr vor sich; aber ich erwischte ihn an der Gurgel und das Messer drang so tief ein, dass meine Hand unter seinem Kinn war. Ich drehte die Klinge mit solcher Gewalt um, dass sie zerbrach. Es war aus. Ein armdicker Blutstrahl trieb die Klinge aus der Wunde. Er fiel aufs Gesicht, steif wie ein Pfahl. (...) Ich sagte zum Dancaïro: Ich übernehme den Engl?nder. Mach du den andern Angst, sie sind nicht bewaffnet. Der Engländer war mutig. Hätte Carmen ihn nicht gestoßen, war' ich tot. Kurz, an jenem Tag eroberte ich Carmen zurück (...).


LUKAS, DER PICADOR
Ich ließ mich überreden und trieb mein abscheuliches Handwerk aufs Neue. wärend ich in Granada versteckt war, fanden dort Stierk?mpfe statt, die Carmen besuchte. Als sie zurückkam, erzählte sie viel von einem sehr geschickten Picador namens Lukas. (...) Ich gab nicht Acht darauf. Juanito, der Kamerad, der mir geblieben war, erzählte mir einige Tage später, dass er Carmen mit Lukas bei einem Kaufmann (...) gesehen habe. Das störte mich auf. Ich fragte Carmen, wie und weshalb sie die Bekanntschaft des Picadors gemacht habe. (...) Ich verbiete dir, mit ihm zu reden. - Nimm dich in Acht, antwortete sie, wenn man mir verbietet, etwas zu tun, ist es bald getan. (...)


CARMEN PROPHEZEIT IHREN TOD
Ich holte mein Pferd, setzte sie hinter mich und wir ritten den Rest der Nacht, ohne ein Wort zu sprechen. Bei Tagesanbruch hielten wir vor einer einsamen Venta in der Nähe einer kleinen Einsiedelei. Dort sagte ich zu Carmen: Höre, ich vergesse alles. Ich spreche nicht mehr davon, aber schwör mir etwas: Dass du mir nach Amerika folgst und dich dort ruhig verhältst. - Nein, ich will nicht nach Amerika, sagte sie trotzig, Ich fühle mich hier wohl. - Weil du nahe bei Lukas bist, aber denk daran: Sollte er genesen, dann nicht, um alte Knochen zu bekommen! Im übrigen: Warum mich an ihm rächen? Ich bin es müde, alle deine Liebhaber zu töten; dich werde ich töten. Sie sah mich starr an mit ihrem wilden Blick und sagte: Ich habe immer gedacht, dass du mich töten w?rdest.Das erste Mal, als ich dich sah, war ich gerade einem Priester an der Tür meines Hauses begegnet.
Und diese Nacht, als wir Cordoba verließen, hast du nichts bemerkt? Ein Hase lief zwischen den Beinen deines Pferdes über den Weg. Es steht geschrieben. - Carmencita, fragte ich sie, liebst du mich nicht mehr? Sie antwortete nicht. Mit gekreuzten Beinen saß sie auf einer Matte und zog mit ihrem Finger Linien auf der Erde. F?hren wir ein anderes Leben, Carmen!, sagte ich flehend. Lass uns irgendwo leben, wo wir nie getrennt sein werden. Du weißt, nicht weit von hier liegen hundertzwanzig Unzen unter einer Eiche vergraben. Auch haben wir noch Gelder bei dem Juden Ben-Joséf. Sie lächelte und sagte: ich zuerst, dann du. Ich weiß, dass es so kommen muss. - Denke nach, begann ich wieder, ich bin am Ende meiner Geduld und meines Muts; entscheide dich oder ich entscheide mich. (...)


CARMENS ERMORDUNG
Sie stand auf, warf die Schüssel weg und schlang ihre Mantilla um den Kopf, zum Gehen bereit. Man brachte mein Pferd, sie setzte sich hinter mich und wir entfernten uns. Meine Carmen, sagte ich nach einer Strecke Weges, du willst mir also folgen, nicht wahr? - Ich folge dir zum Tod, ja: aber leben will ich nicht mehr mit dir. Wir befanden uns in einer einsamen Schlucht; ich hielt mein Pferd an. Hier ist es?, fragte sie und war mit einem Sprung auf dem Boden. Sie nahm ihre Mantilla ab, warf sie auf die Erde und blieb unbeweglich stehen, eine Faust in der Hälfte, mich starr anblickend. Du willst mich töten, ich sehe es wohl, sagte sie, so steht das geschrieben, aber zum Nachgeben bringst du mich nicht. - Ich bitte dich, sagte ich, sei vernünftig. Höre, alles Vergangene ist vergessen. Und doch warst du es, wie du weißt, die mich ins Verderben gestürzt hat. Deinetwegen bin ich zum Räuber und Mörder geworden. Carmen! Meine Carmen! Lass mich dich retten und mich mit dir! - José, erwiderte sie, du verlangst Unmögliches. Ich liebe dich nicht mehr; du aber liebst mich noch und deswegen willst du mich töten. Ich könnte dich wohl wieder belügen, aber ich will mir nicht mehr die Mühe machen. Alles ist aus zwischen uns. Als mein rom hast du das Recht, deine romi zu töten, aber Carmen wird immer frei sein. Als calli ist sie geboren, als calli wird sie sterben. - Du liebst also Lukas?, fragte ich. -Ja, ich habe ihn geliebt, wie dich, einen Augenblick, vielleicht weniger als dich. Jetzt liebe ich nichts mehr, und ich hasse mich, dass ich dich geliebt habe. Ich warf mich ihr zu Füßen, ergriff ihre Hände, netzte sie mit meinen Tränen. Ich erinnerte sie an alle Stunden des Glücks, die wir zusammen verbracht hatten. Ich bot ihr an, Räuber zu bleiben, um ihr zu gefallen. (...) Ich versprach ihr alles, wenn sie mich nur wieder lieben wollte. Sie sagte: Dich zu lieben ist unmäglich. Mit dir leben will ich nicht. Wut packte mich. Ich zog mein Messer. Ich wollte, dass sie Angst bekam und mich um Gnade bat, aber diese Frau war ein Dämon. Zum letzten Mal, schrie ich, willst du bei mir bleiben? - Nein, nein, nein!, rief sie, mit dem Fuß stampfend, zog einen Ring vom Finger, den ich ihr geschenkt hatte, und warf ihn ins Gebüsch. Ich stach zweimal zu. (...) Sie fiel beim zweiten Stich ohne Laut. Immer noch sehe ich ihre großen schwarzen Augen starr auf mich geheftet; dann wurden sie trübe und schlossen sich. Ich blieb vernichtet wohl eine Stunde vor der Leiche stehen. (...) 

(Zitat Programmheft Quelle "Prosper Mérimé, Carmen. Novelle. Übersetzung von Wilhelm Geist, Stuttgart 2002)

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